Eine soziologische Perspektive auf “Gemeinschaft” und “Gemeinsinn”

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In einer heute komplexen Welt wird gesellschaftlich auf allen Ebenen versucht, den Gemeinsinn oder die Gemeinschaft zu beschwören, obwohl das der Realität nicht entspricht.

In den Unternehmen wird oft die Gemeinschaft oder der Gemeinsinn sogar noch mit weiteren Metaphern – wie z.B. “Familie” – auf die Spitze getrieben. Der Soziologe Armin Nassehi sieht solche Entwicklungen kritisch:

“Wer auf die Gemeinschaft setzt, muss sagen, wer nicht dazugehört. Appelle ans Wir-Gefühl haben immer auch etwas Ausschließendes. Wenn man in einem Unternehmen von der Belegschaft einen starken Gemeinsinn einfordert, riskiert man, dass sich niemand mehr traut, zu widersprechen. Das ist tödlich für alle Kreativität, die man im Unternehmen dringend braucht. Der ausgerufene Gemeinsinn hat eine kompensatorische Funktion, damit soll ein Versagen zum Beispiel des Managements oder der Politik kaschiert werden” (Nassehi in brand eins 12/2024).

Daraus leitet sich ab, dass Unternehmen bei der Verwendung der genannten Begriffe vorsichtiger sein sollten, wenn sie Kreativität und Innovation in ihrer Organisation benötigen. Siehe dazu auch

Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenke

Blockiert die Ausrichtung auf Kernkompetenzen Innovationen?

 

Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken

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Früher haben alle in den Organisationen von Change gesprochen, heute reden alle über Transformation. In dem Blogbeitrag Wandel, Change, Transformation oder doch Transition? habe ich dazu verschiedene Perspektiven zusammengefasst.

Auf der gesellschaftlichen Ebene wird im Zusammenhang mit Transformation oft davon ausgegangen, dass es eine relativ homogene Gesellschaft gibt, doch dem ist nicht so. Ein gut gemeinter Wille, beispielsweise der Politik, zur Veränderungen in einer Gesellschaft reicht einfach nicht.

Gerade bei Veränderungsprozessen merken alle Beteiligten – manchmal schmerzhaft- , dass es in einer Gesellschaft viele und vielschichtige Widerstände gibt. Es ist wieder einmal bezeichnend, dass es gerade Soziologen sind, die darauf hinweisen – beispielsweise Armin Nassehi:

“Aber dieser Triumph des Willens rechnet nicht mit dem Eigensinn, mit der inneren Komplexität und den Widerständen einer Gesellschaft, die eben kein ansprechbares Kollektiv ist. Und sie rechnet nicht mit der populistischen Reaktion auf Krisenerfahrungen. Dabei wird immer deutlicher: Man kann nicht gegen die Gesellschaft transformieren, sondern nur in ihr und mit ihr – und nur mit ihren eigenen Mitteln” (Der Soziologe Armin Nassehi in einem Interview in brand eins 12/2024).

In seinem Buch weist Nassehi auch darauf hin, dass die notwendigen Veränderungen trotz des vielschichtigen Widerstandes in allen Ecken der Gesellschaft schon geschehen.

»Gesellschaftliche Transformation kann nicht als große Form funktionieren, sondern nur als eine, die in konkreten Situationen erfolgreich sein kann. Das ganze Programm der kleinen Schritte läuft längst …” Armin Nassehi (2024): Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken | Bei Amazon

Es ist auch hier wieder interessant zu sehen, dass es immer wieder Soziologen sind, die bei komplexen Zusammenhänge spannende alternative Deutungsmuster anbieten. Der Mainstream wird diese allerdings nicht aufnehmen, da Mainstream häufig nicht klären und aufklären, sondern eher beeinflussen will. Weitere Blogbeiträge dazu finden Sie hier.

Beck: Individualisierung ist ein Unbegriff, ein Unding

In den vergangenen Jahrzehnten ist ein deutlicher Trend in der Gesellschaft und in der Wirtschaft zu erkennen: Die Entgrenzung der ersten Moderne – mit ihren Rollen, Klassen und Systemen – führt in einer eher Reflexiven Modernisierung zu Entgrenzungen und zu mehr Individualisierung.

Der wirtschaftliche Teil der Entwicklung zeigt sich in immer stärker individualisierten Produkten und Dienstleistungen und in der Hybriden Wettbewerbsstrategie Mass Customization / Mass Personalization. Dabei wird sehr stark von dem Individuum ausgegangen, und die individuellen Bedürfnissen betrachtet. Der Soziologe Ulrich Beck sieht diesen Ansatz kritisch und begründet das wie folgt:

“Individualisierung allein, gleichsam als autistischer Massenindividualismus gedacht, ist ein Unbegriff, ein Unding. Individualisierung steht unter dem normativen Anspruch der Ko-Individualisierung, das heißt: der Individualisierung mit- oder gegeneinander. Aber die Individualisierung (der) des Einen ist oft genug die Grenze der Individualisierung des (der) Anderen. So werden mit zunehmender Individualisierung auch die nervigen Grenzen derselben mit erzeugt. Anders gesagt: Individualisierung ist ein durch und durch gesellschaftlicher Sachverhalt oder gar nichts. Die Vorstellung eines autarken Ich ist pure Ideologie”
Beck (2001): Das Zeitalter des “eigenen Lebens”. Individualisierung als “paradoxe Sozialstruktur” und andere offene Fragen | PDF

Es macht nach Beck Sinn, den Blick auf den individuellen Bürger oder auch auf den individuellen Konsumenten stärker zusammen mit seinen Vernetzungen mit anderen zu sehen. Es zeigt sich auch hier wieder, wie eng soziologische und wirtschaftliche Bereiche vernetzt sind.

Transformation, doppelte Transformation, oder besser Multiple Transformationen?

bibb (Hrsg.) (2023): Future Skills – Fortschritt denken. BIBB-Kongress am 27. und 28. Oktober 2022 in Bonn.

Das Unternehmensumfeld ist sehr turbulent, teilweise sogar disruptiv. Der Begriff VUCA beschreibt dabei diese Situation – recht grob. Dennoch deuten solche Hinweise darauf, dass es in Unternehmen darauf ankommt, sich an diese Veränderungen anzupassen. Hier kommt ein weiterer Begriff hinzu: Transformation. Einerseits unterscheidet sich der Begriff Transformation von Changemanagement, andererseits auch von Wandel und Transition. Siehe dazu auch Kritik an dem Konzept einer “transformationalen Führung”.

Weiterhin ist interessant, dass immer mehr Wissenschaftler darauf hinweisen, dass es mehrere Transformationen gibt. Beispielsweise gibt es die digitale Transformation und auch die ökologische Transformation. Prof. Dr. Sabine Pfeiffer vom Institut für Soziologie (FAU Erlangen-Nürnberg) hat diese Zusammenhänge für die Automobilbranche aufgezeigt, und beschreibt diese doppelte Transformation wie folgt:

“Denn zum einen ist – mehr als in vielen anderen Branchen – die Digitalisierung facettenreicher, betrifft sie doch nicht nur die Digitalisierung der Arbeitsprozesse, sondern auch das Produkt Auto ebenso wie das Geschäftsmodell Mobilität. Zum Zweiten sind Herausforderungen der ökologischen Transformation nur auf den ersten Blick mit der Transformation in Richtung Elektromobilität gleichzusetzen und sollten nicht auf diese reduziert werden; es geht auch um Ressourceneffizienz und um CO2 Neutralität über alle Lieferketten und Produktzyklen hinweg. Zum Dritten stehen beide Transformationen auch in engster und durchaus auch widersprüchlicher Wechselwirkung: keine effiziente Ladestruktur für Elektromobilität ohne Digitalisierung, kein Einsatz von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen ohne immensem ökologischen Fußabtritt – um nur zwei Beispiele zu nennen. Viertens schließlich sind Transformationen in gewachsenen Produktionsstrukturen (Brownfield) aufwändiger, voraussetzungsvoller und kostenintensiver als der Aufbau neuer Strukturen (Greenfield)” (Pfeiffer, S. (2023:26): Doppelte Transformation: Wo steht die Berufsbildung?, in: bibb (Hrsg.) (2023): Future Skills – Fortschritt denken. BIBB-Kongress am 27. und 28. Oktober 2022 in Bonn.

Bisher wurden verschiedene Transformationen einzeln betrachtet, doch stehen alle Transformationen in einer Wechselwirkung zueinander – was “die Transformation” nicht einfacher macht. Die Autorin macht weiterhin darauf aufmerksam, dass in den wissenschaftlichen Studien oftmals nur einzelne Transformationen betrachtet und analysiert wurden, was offensichtlich der Gesamtsituation nicht gerecht wird. Es wäre daher besser, von multiplen Transformationen zu sprechen. Bei diesem Begriff lehne ich mich absichtlich an Howard Gardners Multiple Intelligenzen Theorie an.

Solche Zusammenhänge thematisieren wir auch in den von uns entwickelten Blended Learning Lehrgängen, die wir an verschiedenen Standorten anbieten. Weitere Informationen zu den Lehrgängen und zu Terminen finden Sie auf unserer Lernplattform.

Wirtschaftspsychologie und Wirtschaftssoziologie sind vielen Führungskräften wenig bekannt

In unserem Blog habe ich schon des Öfteren darüber geschrieben, dass das traditionelle Management alles messbar machen will. Wenn es dann nicht messbar ist, wird es eben messbar gemacht. Diese Mechanisierung des Weltbildes löst sich allerdings auf. Heute geht es eher darum, mit Unschärfe und Unsicherheit umzugehen. Da treffen nun allerdings zwei ganz unterschiedliche Entwicklungen aufeinander.

“Führungskräfte kommen häufig aus der Betriebswirtschaftslehre, der Naturwissenschaft, der Rechtswissenschaft oder dem Ingenieurwesen. Dort ist Wirtschaftspsychologie wenig bekannt. Wenn sie sich überhaupt mit dem Thema Mensch und seinem Verhalten befasst haben, dann folgen sie meist recht einfachen, mechanistischen Modellen. Auch späteres Training kann dafür bestenfalls sensibilisieren. Wer sein Verhalten gegenüber Menschen verbessern will, braucht viel Zeit. Jährlich zwei dreitägige Trainings reichen dafür nicht aus. Die Führungskraft muss ihr Mindset ändern. Viele Führungskräfte betrachten ihre Mitarbeiter nach wie vor als Humanressource. Man kann gemäß dieser Überlegung aus Mitarbeitern irgendwie Arbeitsleistung und Motivation ´herausschälen´ – und der ganze Rest gehört ins Private, das die Führungskräfte nichts angeht. Unsere Diskussion der Grundbedürfnisse dürfte zeigen, dass dieses Kalkül nicht aufgeht. Beim Change haben wir es mit dem ganzen Menschen zu tun, nicht nur mit einer Arbeitskraft” (Prof. Rüdiger Reinhart in einem Interview mit Oliver Steeger in Projektmanagement Aktuell Ausgabe 32. Jahrgang 2021, 02/2021 S. 12-16).

An dieser Stelle möchte ich ergänzen, dass Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit als Befund soziologischer Diagnosen sind. Der Strukturbruch zwischen einfacher und reflexiver Modernisierung wurde schon vor vielen Jahren thematisiert und beschrieben/veröffentlicht. Es ist schade, dass diese Erkenntnisse wenig beachtet wurden, obwohl sie vieles vorweggenommen haben, was heute als modernes Management “verkauft” wird.

Siehe dazu auch Die neue Wirtschaftssoziologie oder Freund, R. (2011): Das Konzept der Multiplen Kompetenz auf den Analyseebenen Individuum, Gruppe, Organisation und Netzwerk.

Warum sollten wir das In-Beziehungen-Denken neu lernen?

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Ein gutes Beispiel dafür, was in komplexen Systemen passiert ist das Gehirn, da es das das komplexeste und leistungsfähigste Organ ist, das wir kennen.

Und diese Leistungsfähigkeit liegt – nach allem, was wir bislang aus der Hirnforschung wissen – nicht zuletzt daran, dass die Verknüpfungen wichtiger als die Teile sind. Das Gehirn funktioniert, weil etwas zwischen den Neuronen passiert – elektrische und chemische, möglicherweise auch rhythmische Verbindungen, Vernetzungen, Beziehungen. Es existiert keine zentrale Instanz, (…) (Mutius 2004:27).

Es erscheint also in komplexen Systemen wie Gesellschaften, Märkten und Organisationen wichtig zu sein, auf „Muster, die verbinden“ (Gregory Bateson) zu achten. Neu zu lernen wäre also das In-Beziehungen-Denken (Mutius 2004:17), was uns nicht leicht fällt, da wir es seit dem 18. Jahrhindert gewohnt sind, von stetigem Fortschritt, Beherrschbarkeit der Natur usw. auszugehen (Einfache Modernisierung). Dieses Mindset zu ändern ist in der heutigen Reflexiven Modernisierung die Aufgabe in allen Bereichen unserer Gesellschaft.

Diese soziologisch seit Jahren gut beschriebene Situation mit ihren Auswirkungen der Kontingenz, der Entgrenzungen, der stärkeren Selbstorganisation usw. usw. wird von betriebswirtschaftlich ausgerichteten Marktteilnehmern oft genutzt, um Geschäfte zu machen. Dabei wird allerdings kaum – oder gar nicht – auf die vielfältigen Vorarbeiten aus der Soziologie eingegangen. Auch hier wäre ein In-Beziehungen-denken angebracht.

Gedanken zu “Empirie und Theorie” im Scrum-Guide

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Schauen wir uns in diesem Zusammenhang einmal an, was im aktuellen Scrum-Guide dazu steht: “Scrum basiert auf der Theorie empirischer Prozesssteuerung oder kurz “Empirie”. Empirie bedeutet, dass Wissen aus Erfahrung gewonnen wird und Entscheidungen auf Basis des Bekannten getroffen werden. Scrum verfolgt einen iterativen, inkrementellen Ansatz, um Prognosesicherheit zu optimieren und Risiken zu kontrollieren (Seite 5, Hervorhebung durch den Autor des Blogbeitrags).

Der Text “Theorie der empirischen Prozesssteuerung oder Empirie´” ist m.E. etwas ungewöhnlich, da er “Empirie” als “Theorie bezeichnet. Die Soziologie betrachtet allerdings “Theorie” und “Empirie” separat. Gemeint ist im Scrum-Guide wohl, dass der Schwerpunkt eher auf der “Empirie” liegt. Allerdings ist diese Perspektive auch nicht so ganz geschickt, wie dem folgenden Text zu entnehmen ist.

Das Fach Soziologie ist in seinem Kern in zwei Sphären geteilt: „die Theorie“ und „die Empirie“ (…). Die Begriffe „Theorie“ und „Empirie“ bezeichnen damit zwei weitgehend separierte sozilogische Wissenspraktiken, die auf unterschiedlichen Materialien, Relevanzen, philosophischen Traditionen und Diskursen gründen (…). So weit, so bekannt. Wie alle Dualismen führt auch derjenige von Theorie und Empirie in seiner Klischeehaftigkeit eine Reihe von Unschärfen mit sich. In der Geschichte der Soziologie findet sich eine Vielzahl solcher Gegensatzkonstruktionen wie etwa Mikro/Makro, Kultur/Natur, Struktur/Handlung. In „Sattelzeiten“ (Koselleck) soziologischer Theoriebildung finden Umkehrungen statt, und damit verlieren diese Gegensätze ihren den soziologischen Diskurs bestimmenden Charakter (vgl. Knorr Cetina/Cicourel 1981) (…) Er knüpft damit an Diskurse an, die die Notwendigkeit betonen, Empirien und Theorien nicht getrennt zu denken (etwa Merton 1968: 139 ff., 156 ff.; Bourdieu 1979: 228 ff) vgl. Kalthoff 2008:8-10).

Wer hätte gedacht, dass die Soziologie hier wichtige Anregungen gibt… Theorie und Empirie nicht getrennt zu denken, kann daher auch in der Diskussion über Scrum hilfreich sein, denn einseitige Perspektiven werden dem komplexen Kontext, in dem agile Ansätze angewendet werden, nicht gerecht.

Wie hängen Interaktion und Kontext zusammen?

Wenn es um Wissen, Kompetenz, Intelligenz, Lernen oder andere Themen geht, werden immer wieder die Begriffe Interaktion und Kontext genannt. Unklar ist allerdings häufig, was darunter zu verstehen ist. Der bekannte britische Soziologe Anthony Gidddens hat die beiden Begriffe schon vor vielen Jahren thematisiert.

The study of context, or of the contextualities of interaction, is inherent in the investigation of social reproduction. ‘context ‘involves the following (Giddens 1984:282):
( a) the time-space boundaries (usually having symbolic or physical markers) around interaction strips;
(b) the co-presence of actors, making possible the visibility of a diversity of facial expressions-, bodily gestures, linguistic and other media of communication;
(c) awareness and use of these phenomena reflexively to influence or control the flow of interaction.

Diese Charakterisierung kann auch heute noch verwendet werden. Dabei fällt auf, dass manche Bedingungen bei einer digitalen Interaktion/Kommunikation nicht gegeben sind. Beispielsweise sind die körperlichen Gesten oft nicht vollständig zu erkennen – auch in Bezug zu den körperlichen Gesten anderer Teilnehmer, die zeitgleich passieren.

Es stellt sich für mich die Frage, ob diese wenigen Elemente schon genügen können, die Interaktion und damit die Kommunikation zu verfälschen. In hoch komplexen Systemen kann eine kleine Änderung sehr große Auswirkungen haben …

Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit als Befund soziologischer Diagnosen?

Das heutige unternemerische Umfeld wird häufig mit dem Akronym VUCA beschrieben. Es wird argumentiert, dass dadurch ein anderes Problemlöseverhalten von Unternehmen erforderlich ist, das mit dem Begriff “Agil” vollumfänglich beschrieben zu sein scheint. Eine Agile Organisation, Agiles Personalwesen, ein Agiler Einkauf usw. werden propagiert. Die Begriffe Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit sind allerdings Bestandteile einer Gesellschaftstheorie, die als Zweite Moderne bekannt geworden ist. Die darin enthaltene Theorie der reflexiven Modernisierung ist eher eine Gesellschaftstheorie.

“Moderne Zeiten sind unsichere Zeiten – so lautet der Befund soziologischer Gegenwartsdiagnosen. Die Theorie reflexiver Modernisierung hat diesen Befund weiter zugespitzt. Sie diagnostiziert, dass die Gesellschaft, in der wir leben – die Zweite Moderne – durch Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit gekennzeichnet ist: Entscheidungen beruhen nicht mehr auf gesichertem Wissen, soziale Lagen lösen sich auf und vertraute Institutionen wie der Nationalstaat oder die Erwerbsarbeit verlieren ihre Konturen. Während Institutionen, Organisationen und Individuen mehr denn je dazu gezwungen sind, Entscheidungen zu treffen, wird dies gleichzeitig immer schwieriger, denn institutionalisierte Entscheidungskonventionen produzieren Nebenfolgen, die die Basisinstitutionen moderner Gesellschaften bedrohen” (Böhle/Weihrich (2009:9).

Die in den neuen Arbeitsformen (WoL, New Work, Agil …) enthaltenen Instrumente/Ansätze/Vorgehensmodelle sind also eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Das Mantra des Universellen solcher Ansätze kann durchaus auf ihre soziologischen Grundlagen zurückgeführt werden – doch wer will das schon?

Siehe dazu auch Freund, R. (2011): Das Konzept der Multiplen Kompetenz auf den Analyseebenen Individuum, Gruppe, Organisation und Netzwerk.

Wirtschaftliches Handeln – Soziales Handeln: Eine interessante Beziehung.

Wirtschaft auf der einen Seite, und Soziales auf der anderen Seite. Dieses Bild vom “Entweder-oder” wird oft bemüht, als hätten diese beiden Hemisphären gar nichts (oder wenig) miteinander zu tun. Es dominiert häufig die wirtschaftliche Sicht über die eher soziale Perspektive. In den 1960er Jahren war die Soziale Marktwirtschaft ein Erfolgsrezept, das allerdings in den darauf folgenden Jahrzehnten vom Primat der Wirtschaft abgelöst wurde.

In den letzten Jahren haben gerade Entrepreneure gezeigt, dass Wirtschaft und Soziales durchaus für alle Seiten gewinnbringend kombiniert werden kann. Dieser hybride Ansatz ist deshalb zeitgemäß, da er eine Passung zu den Lebenswelten hat, die in der Zwischenzeit Realitäten sind. Noch einen Schritt weiter geht die “neue” Wirtschaftsoziologie. In Becker/Deutschland (2010:10-11) findet sich dazu folgender Hinweis:

“Die Krise des neoklassischen Paradigmas markiert eine Zäsur nicht nur in der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften selbst, sondern bietet auch neue Ansatzpunkte für die Wirtschaftssoziologie. Denn jetzt spielt die Kontingenz der Handlungssituation auch in den Wirtschaftswissenschaften eine entscheidende Rolle. Damit geraten Institutionen, soziale Normen und „mentale Modelle“ in den Blick, also soziale Makrostrukturen, mit denen Soziologen vertraut sind. Wirtschaftliches Handeln als soziales Handeln und nicht länger nur als sozial ´kontextualisiertes´ Handeln zu begreifen, ist der Kern des Programms der sogenannten „neuen“ Wirtschaftssoziologie (Beckert), Fligstein, Granovetter, Swedberg, White u. a.): ´The bedrock assumption of the embeddedness approach is that social networks – built on kinship or friendship, trust or goodwill – sustain economic relations and institutions. The basic idea is as old as sociology itself, such as in Durkheim’s critique of Spencer – the existence and necessity of pre-contractual elements in contracts (Lie 2005).”

Es verwundert daher nicht, dass immer dann, wenn es in diesem Sinne komplex wird, Soziologen um eine Einschätzung gebeten werden. Leider entspricht die allgemeine Wertschätzung der Soziologen (und der Soziologie) nicht dem Stellenwert, den sie in der heutigen Zeit haben sollte. Möglicherweise ändert sich da etwas mit der “neuen” Wirtschaftssoziologie.