Künstliche Intelligenz: Von der Produktentwicklung wieder (zurück) zur Prozessentwicklung?

Künstliche Intelligenz wird unseren individuellen Alltag, Unternehmen/Organisationen und letztendlich die gesamte Gesellschaft in verschiedenen Anwendungsformen immer stärker beeinflussen.

Dabei deutet sich in den Unternehmen/Organisationen eine interessante Entwicklung an.

Organisationen waren in den letzten 100 Jahren der Industrialisierung darauf fokussiert, ihre Prozesse (oftmals Routineprozesse) immer weiter zu optimieren, effektiver und effizienter zu machen. Diese Prozesslandschaften haben dann zu den bekannten Qualitätsmanagement-Systemen oder auch Projektmanagement-Systemen geführt. Gerade im Projektmanagement hat sich diese Vorgehensweise (Vorgehensmodelle) bei Projekten im Entwicklungsbereichen (Innovationen) zu einer Arbeitsform (Vorgehensmodell) entwickelt, die eher produktorientiert ist. Paradebeispiel dafür ist das Scrum-Framework mit den zu erzielenden Increments am Ende des Sprints oder das Minimum Viable Product (MVP), das wir aus dem Lean Start-up-Ansatz kennen.

Dieser Trend wird aktuell durch Künstliche Intelligenz scheinbar wieder umgekehrt. Wie kommt das?

Schauen wir uns einmal an, wie stark Künstliche Intelligenz den gesamten Lebenszyklus der Software-Entwicklung beeinflusst, so können wir erahnen, dass die Zyklen, in denen ein (Software-)Ergebnis (Increment, MVP) produziert werden kann, immer kürzer werden. Möglicherweise so kurz, dass es sich gar nicht mehr lohnt, den gesamten Scrum-Zyklus mit den vorgesehenen Artefakten und Events durchzuführen, und es zu einem kontinuierlichen Fluss an Ergebnissen (Produkten) kommt. In meinem Beitrag Künstliche Intelligenz: Wird Scrum durch den permanenten Fluss an Produkten zu Kanban? hatte ich das schon einmal angedeutet. Es freut mich daher, dass der Gedanke durchaus auch von anderen Autoren vertreten wird:

“Der Fokus essenzieller Design- und Architekturentscheidungen verschiebt sich in der Digitalisierung genau wie einst in der Industrialisierung von der Produktentwicklung hin zur Prozessentwicklung. Hier schließt sich auch der Kreis zu Scrum, denn zwei der wichtigsten Scrum-Pioniere Hirotaka Takeuchiund Ikujiro Nonaka kamen ursprünglich aus industriellen Produktions- und Innovationskontexten, nicht aus der Softwareentwicklung” (Immich, T.(2025): KI-Agenten Teil 2: Von der Produktentwicklung zur Prozessoptimierung, in Heise Online vom 27.05.2025).

Wissensmanagement: Die Kontextbindung von Wissen

Brödner, P.; Helmstädter, E.; Widmaier, B. (Hrsg.) (1999): Wissensteilung – Zur Dynamik von Innovation und kollektivem Lernen (Zur Einführung). München und Mering

Wissen wird situativ konstruiert (Konstruktivismus). Das bedeutet, dass beispielsweise die selben Daten und Information im Einkauf (Kontext 1) und im Verkauf (Kontext (2) zu anderen Wissenskonstruktionen führen können. Die Abbildung illustriert diese und folgende Zusammenhänge.

Noch schwieriger ist es für Experten ihr Wissen (Expertise, Expertenwissen) preiszugeben (Kontext 1 – berufliche Domäne 1) , denn es handelt sich dabei hauptsächlich um implizites Wissen (1).

Dieses implizite Wissen (1) wird dann mit Hilfe von Theorien, Modellen und Begriffen de-kontextualisiert und über das dann explizierbare Wissen in einen anderen Kontext (2) übertragen. Dort wird das explizite Wissen re-kontextualisiert und über Aneignung, Internalisierung und Lernen zu einem impliziten Wissen (2) und zu Können (2).

Die Übergänge von impliziten Wissen zu expliziten Wissen – und umgekehrt – werden in dem bekannten SEKI-Modell von Nonaka/Takeuchi als eine Art Wissensspirale dargestellt. Dabei ist allerdings folgendes zu beachten: Schreyögg, G.; Geiger, D. (2003): Kann die Wissensspirale Grundlage des Wissensmanagements sein? Siehe dazu auch diesen Beitrag zum trägen Wissen.

Schreyögg, G.; Geiger, D. (2003): Kann die Wissensspirale Grundlage des Wissensmanagements sein?

Die Wissensspirale (Nonaka und Takeuchi 1995) stellt die verschiedenen Übergänge zwischen impliziten und expliziten Wissen auf. Dabei wird zwischen vier Wissenskonversionen unterschieden: Sozialisation, Externalisation, Kombination und Internalisation. Aus diesem Grund wird das Modell auch SEKI-Modell genannt.

Der Beitrag Schreyögg, G.; Geiger, D. (2003): Kann die Wissensspirale Grundlage des Wissensmanagements sein? befasst sich mit den verschiedenen Entwicklungen des Wissensmanagements und thematisiert das SEKI-Modell. Die Autoren fassen dabei auf Seite 27 kritisch zusammen: “Die Diskussion der aktuellen Wissensmanagement-Debatte hat gezeigt, dass die vielerorts geforderten Bemühungen, um die Externalisierung impliziten Wissens, wie sie mit der Wissensspirale populär gemacht worden sind, eine konzeptionell falsche und daher auch wenig fruchtbare Basis für ein Wissensmanagement bilden. Es wurde gezeigt, dass die Konversion von implizitem Wissen in explizites Wissen, zumindest wenn man an den in dieser Diskussion als Kronzeugen bemühten Philosophen Polanyi anschließt, schlichtweg unmöglich ist. Die Wissensspirale kann sich folglich gar nicht ´drehen´.” Vorgeschlagen wird, anstelle des impliziten Wissens “Narrationen und narratives Wissen in den Vordergrund” zu rücken.

Ich halte diese Hinweise für sehr hilfreich, weil sie die implizite Dimension und den schwierigen Umgang damit thematisieren. Gerade die implizite Dimension von Wissen ist in den Unternehmen eine oftmals vernachlässigte, aber für das Geschäft wichtige Größe. Siehe dazu auch Intellektualistische Legende und Chatt et al. (2007): The Web 2.0 Driven SECI-Model Based Learning Process.