Künstliche Intelligenz und Menschliche Intelligenz

Aktuell reden und schreiben viele zur Künstlichen Intelligenz, die sich praktisch umgesetzt in vielen Anwendungen, wie z.B. ChatGPT von OpenAI, zeigt. Haben wir “Intelligente IT-Systeme” und dumme Menschen? Wenn es um menschliche Intelligenz geht, kommt oft der vor mehr als 100 Jahren entwickelte Intelligenztest ins Spiel, mit dem dann zukünftige Möglichkeiten und Dispositionen vorhergesagt werden. Die folgende Passage beschreibt die Zusammenhänge etwas ausführlicher.

“Eine erste Entwicklungslinie soll hier aus heuristischen Gründen auf das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert datiert werden. Ausgangspunkt ist die kausalmechanische Logik einer behavioristischen Entwicklungspsychologie, die den Körper wesentlich als Reiz-Reaktions-Maschine betrachtet. In dieser Logik entwickelte der französische Psychologe Alfred Binet 1905 gemeinsam mit dem Arzt Théodore Simon einen ersten sogenannten ´Intelligenztest´ (Liungman, 1976). Das mit der Psychometrie etablierte sehr lineare, planmäßig geregelte Mess- und Testregime verweist auf einige zentrale Merkmale von Vermessungs- respektive Prüfungspraktiken. Grundlegend zielt die Prüfung darauf ab, von der Summe einzelner aktueller Leistungsergebnisse eines Individuums auf die zukünftigen Möglichkeiten und Dispositionen bzw. auf die zukünftig erwartbare Leistungsfähigkeit schließen zu können. Aber der Psychometrie gilt nicht nur eine aktuelle Leistung als repräsentativ für ein Leistungsvermögen, sondern sie stellt durch ihre Orientierung am Modell der Normalverteilung zugleich die Kontrolle sozialer Relationen sicher: Die Intelligenzleistungen, die dem Einzelnen als Leistungen zugeschrieben werden, werden im Verhältnis zum Durchschnitt der Leistungen anderer angegeben und damit vergleichbar gemacht. Auf Basis derartiger Aussagen über ´Begabung´ und ´Intelligenz´ lassen sich institutionelle Selektionsprozesse und soziale Hierarchisierungen legitimieren (Bourdieu, 1993; Gould, 1988)” (Vater, S. (2023:255248).): Validierung und Neoliberalismus – selbstverantwortete Beschäftigungsfähigkeit als Lernergebnis, in: Schmid, M. (Hrsg.) (2023): Handbuch Validierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen, S. 235-248).

Intelligenztests werden für berufliche/gesellschaftliche Selektionsprozesse genutzt, dabei haben diese ihren Ursprung in einer behavioristischen Logik und sollen Auskunft über zukünftige Dispositionen geben. Dieser Determinismus stößt auf Kritik. Siehe dazu auch Ursache – Wirkung: Die Intellektualistische Legende. Es wird immer wieder vorgeschlagen, das Konstrukt “Intelligenz” auszudifferenzieren. Folgender Text soll das beispielhaft aufzeigen:

“Inhaltlich hat sich das Intelligenzkonzept in den letzten 100 Jahren ausdifferenziert (vgl. Funke u. Vatterodt-Plünnecke 2004): An der Stelle einer einzigen Intelligenzdimension (´general intelligence´, g-Faktor) ist heute die Konzeption multipler Intelligenzen im Sinne unterschiedlicher Teilkompetenzen (z.B. logisches Schlussfolgern, verbale Intelligenz, kreatives Problemlösen, emotionale Kompetenz, Körperbeherrschung) getreten, für die jeweils andere Erfassungsinstrumente benötigt werden” (Funke 2006).

Gerade in Zeiten von Künstlicher Intelligenz ist es wichtig, auch über die Menschliche Intelligenz zu sprechen. Daraus ergibt sich die Frage, wie passen Künstliche Intelligenz und Menschliche Intelligenz zusammen? Interpretieren wir die von Funke angesprochene Ausdifferenzierung des Intelligenzkonzepts, so führt das meines Erachtens direkt zur Reflexiven Modernisierung und der dort thematisierten Entgrenzung. Möglicherweise hat Gardner´s Theorie der Multiplen Intelligenzen eine bessere Passung zu den aktuellen Entwicklungen. Siehe dazu auch Hybrid Intelligence: Menschliche und Künstliche Intelligenz.

Siehe dazu auch Freund, R. (2011): Das Konzept der Multiplen Kompetenz auf den Analyseebenen Individuum, Gruppe, Organisation und Netzwerk.

Gedanken zu Kreativität und Intelligenz

In den letzten mehr 100 Jahren gab es ein Umfeld, das Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit als wesentliche Bestandteile gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen betrachtete. Ein Instrument dieser Zeit ist der Intelligenzquotient (IQ) mit seiner (teilweisen) Vorhersehbarkeit von schulischen und/oder beruflichen Entwicklungen.

Das Umfeld hat sich allerdings inzwischen drastisch geändert: Die vielfältigen Vernetzungen von Dingen und Menschen (IoT, KI) haben das bisher relativ stabile Umfeld in ein turbulentes Umfeld gewandelt, in dem Selbstorganisation und die Entwicklung/Bewertung neuer Ideen (Kreativität) wichtig ist. Es stellt sich somit die Frage, welchen Bezug es zwischen Kreativität und Intelligenz (Intelligenzquotient: IQ) gibt.

Creative traits, by definition then, had to be considered to differ from “intelligence” traits in order to give them some potential for predicting achievement above and beyond IQ. Intelligence, of course, had been operationally defined through the IQ measurement long before work in creativity began. If researchers were to establish creativity as a trait, therefore, they faced the practical necessity of demonstrating substantial independence of creativity from IQ. This, in effect, is what the last twenty-five years of creativity measurement research has attempted to do, with only limited success (Wallach, 1971). There were also pragmatic reasons for justifying the construction of creativity tests. Intelligence tests had proved valuable to society in many ways, including the more efficient deployment of manpower resources during both world wars, but the predictive value of IQ measures had been found to be poor in situations requiring production and evaluation of new ideas (Feldman 1980: 89-90).

Der Autor bestreitet somit die Vorhersehbarkeit von Kreativität mit Hilfe des Intelligenzquotienten (IQ). Möglicherweise haben andere Intelligenzmodelle wie die von Sternberg oder von Gardner (Multiple Intelligenzen) eine bessere Passung zu den heutigen Problemlösungssettings. Diese Perspektive würde allerdings die lange Tradition zur Nutzung von IQ-Tests für Schüler und Mitarbeiter – und der damit verbundenen Geschäftsmodelle – infrage stellen. Das hätte durchaus weitreichende Folgen… Es ist daher Verständlich, dass die Vertreter psychometrischer Intelligenzmodelle empfindlich auf solche Perspektiven reagieren.

Hängt der Wissenstransfer von den kognitiven Voraussetzungen ab?

Das Phänomen des Tragen Wissens habe ich in diesem Blog schon mehrfach thematisiert. Dabei ging es jeweils darum, dass Wissen kontextspezifisch konstruiert wird und somit nicht so einfach in einen anderen Kontext zu übertragen ist. Diese Situiertheit von Wissen wird allerdings von Süss angezweifelt.

Das die Relevanz des Situiertheitsansatzes anbetrifft, da sind Zweifel angebracht und nicht zuletzt deshalb, weil die zentrale These m.E. nicht haltbar ist, dass Wissen stets kontextgebunden und ein Transfer also gar nicht möglich ist. Ob ein Transfer zustande kommt (…) hängt stattdessen in erster Linie von den kognitiven Voraussetzungen ab, von Intelligenz und Wissen (Süss 2008).

Der Author argumentiert in seinem Beitrag, dass Intelligenz und Wissen dafür verantwortlich sind, ob – oder in welchem Maße – Wissenstransfer stattfindet. Die Frage, was unter “Intelligenz” verstanden wird, beschreibt der Autor wie folgt:

Ein Ziel der psychometrischen Intelligenzforschung ist die Klärung der Frage, ob Intelligenz eine einheitliche Fähigkeit zu konzeptualisieren ist (Spearman) oder besser durch mehrere, voneinander unabhängigen Einzelfähigkeiten (Thurstone, Guilford) beschrieben werden sollte. Heute zeichnet sich ab, dass beide Positionen richtig sind. Hierarchische Strukturmodelle postulieren ein bündel unterscheidbarer Einzelfähigkeiten, die allerdings zusammenhängen, und damit gleichzeitig die Annahme eines hochgradig generellen Faktors der Allgemeinen Intelligenz (“g”) begründen (Caroll 1993). Generell mein hier, dass diese Fähigkeit zur Lösung von sehr vielen und sehr unterschiedlichen Problemen gebraucht wird. Die empirische Grundlage für diese Annahme ist, dass Intelligenzleistungen, die bei ganz unterschiedlichen Aufgaben erbracht werden, stets schwach, aber positiv korreliert sind (Süss 2008:250-251).

Howard Gardner ist mit seiner Theorie der Multiplen Intelligenzen eher der Auffassung von Thurstone und Guilford, dass es eher voneinander unabhängige Fähigkeiten/Intelligenzen gibt.